Sarah Kirsch


Die Facetten ihres Lebens

Sarah Kirsch wurde am 16.04.1935 in Limlingerode im Südharz unter dem Namen Ingrid Bernstein geboren. Sie schloss ihr Abitur in Halberstadt ab und begann eine Ausbildung als Forstarbeiterin, da sie großes Interesse an der Natur hegte. Diese brach sie allerdings ab und arbeitete anschließend unter anderem in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Im Jahre 1954 begann sie in Halle (Saale) ein Studium der Biologie, welches sie 1958 erfolgreich als Diplombiologin abschloss. Noch im selben Jahr lernte den Lyriker Rainer Kirsch kennen, mit dem sie von 1960-1968 verheiratet war.
Das Vornamen-Pseudonym „Sarah“ legte sich die Schriftstellerin aus Protest gegen die Judenverfolgung und Massenvernichtung im Nationalsozialismus des Dritten Reichs und aus Protest gegen den Antisemitismus ihres verstorbenen Vaters zu.
So veröffentlichte Sarah Kirsch ab 1960 lyrische Texte in Zeitschriften. Von 1963-1965 studierte sie ein weiteres Mal, diesmal am „Literaturinstitut Johannes R. Becher“ in Leipzig. Anschließend arbeitete sie als freischaffende Schriftstellerin und war Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband der DDR. Für das 1965 mit ihrem Mann veröffentlichte Werk „Gespräch mit dem Saurier“ erhielten beide die Erich-Weinert-Medaille. Im Jahre 1967 veröffentlichte Kirsch ihr erstes Werk unter eigenem Namen, „Landaufenthalt“.
Nach ihrer Scheidung arbeitete die mittlerweile alleinerziehende Mutter neben ihrer Tätigkeit als freie Schriftstellerin ebenfalls noch als Journalistin, Hörfunkmitarbeiterin und Übersetzerin. In den folgenden Jahren veröffentlichte sie weitere Werke und wurde Mitglied im Vorstand des Schriftstellerverbandes. Als sie 1976 allerdings die Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns mit unterzeichnet, ändert sich ihre Lebenssituation schlagartig. Sarah Kirsch wird aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), sowie aus dem Deutschen Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und fortan vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwacht. So siedelte die Autorin nach Westberlin über und wurde Mitglied im PEN-Zentrum* der Bundesrepublik.
Im Jahr 1980 machte sie noch einmal politisch Schlagzeilen. Sie wendete sich zusammen mit Günther Grass, Peter Schneider und Thomas Brasch, alle drei ebenfalls Autoren, an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und forderten diesen in einem offenen Brief zu einer kritischen Distanz hinsichtlich der US-Außenpolitik auf.
In den nächsten Jahren schrieb die Schriftstellerin mehrere Prosatexte, Gedichte, Bilder-Tagebücher und Lyrikwerke in denen sie ihre Erfahrungen verarbeitete und für die sie zahlreiche Preise, wie zum Beispiel den Büchner- oder den Droste-Hülshoff-Preis, erhielt.
Das Bundesverdienstkreuz lehnte sie aufgrund der NS-Vergangenheit des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens ab.
Sarah Kirsch verstarb am fünften Mai letzten Jahres in Heide (Holstein). Als eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen hinterlässt sie uns eine Reihe von Werken, die von zahlreichen Facetten ihres Lebens geprägt wurden - Liebe und Trennung, Einsamkeit; Verzweiflung und Glück.

Der "Sarah-Ton"


Peter Hachs gab Sarah Kirschs speziellem und einzigartigem Schreibstil einen Namen: der Sarah-Ton. Die Gedichte der Autorin zeichnen sich vor allem durch ihre fortlaufenden Zeilen und die häufige Auslassung von Satzzeichen aus. Auffällig sind auch die oftmals einfach weggelassenen Prä- oder Suffixe.
Als Schriftstellerin verarbeitete sie ihr Leben, ihre Gefühle in ihren Gedichten. Da Kirsch schon immer eine große Zuneigung zur Natur hegte, sind auch ihre Verse oftmals von Naturmotiven durchzogen. Dies wusste Sarah Kirsch stets zu nutzen – sie schuf eine scheinbare Idylle und mischte sie Kritik. Die Natur wird in ihren Gedichten zur Metapher für alltägliche sowie auch politische Themen. Sie ist keine Frau der großen Worte, ihre Verse sind kurz und knapp, aber stets treffend. Mit ihrem lakonischen Schreibstil und ihrer generell sehr ausdrucksstarken Sprache schafft Sarah Kirsch es, Privates im Handumdrehen zu verallgemeinern und für alle zugänglich zu machen. Trotzdem besitzen ihre Gedichte fast immer einen persönlichen Touch, denn die Autorin besaß eine Vorliebe für Neologismen, sie erfand also immer wieder neue Wörter um bestimmte Dinge auf ihre Art und Weise auszudrücken.

"Rückenwind": Die Luft riecht schon nach Schnee



Die Luft riecht schon nach Schnee, mein Geliebter
Trägt langes Haar, ach der Winter, der Winter der uns
Eng zusammenwirft steht vor der Tür, kommt
Mit dem Windhundgespann. Eisblumen
Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und
Du Schönster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den Schoß
 
Ich sage das ist
Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns
Mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel 



Dieses Gedicht enstammt Sarah Kirschs Werk "Rückenwind". Die Gedichtssammlung enstand 1976 und ist vor allem durch die Themen Liebe, Sehnsucht, Natur und Einsamkeit geprägt. Es scheint also eine sehr emotionale Zeit für die Autorin gewesen zu sein, in der sie ihre Gefühlslage in Worte fasste und so, wie auch in anderen Werken, mit auftauchenden Problemsituationen umging. Die Gedichte, die in "Rückenwind" zu finden sind, entstammen zum Teil auch anderen, früheren Jahren, fassen allerdings den Inhalt in gleicher Form wieder auf. Erkennbar sind ebenfalls durchaus Strukturen, die auf das Leben in der DDR hinweisen.
In ihrem Gedicht "Ende Mai" (1976) schreibt sie zum Beispiel "die leichteste aller Tauben windförmig bringt ungeöffnete tagschnelle Briefe. Schatten unter den Augen; mein wüster Herzschlag". Hier wird offensichtlich eine Situation beschrieben, in der private Gedanken übermittelt werden sollten, die allein für den einen speziellen Empfänger bestimmt waren und nicht unter das Messer der Pressezensur kommen sollten.
Man kann also sagen, "Rückenwind" ist  eine bunte Sammlung an Gefühlen die ihren Ursprung in alltäglichen Situationen finden.

Der Kultur-Aktivist - QuickCheck
Auch in dieser Ausgabe haben unsere Redakteure einen kurzen QuickCheck zusammengestellt. Dieses Mal waren sie in Sarah Kirschs Heimatstadt Limlingerode unterwegs und haben wahllos Passanten nach ihren Meinungen gefragt. Das Thema: "Die Luft riecht schon nach Schnee - ein Gedicht von Sarah Kirsch".
Wir haben im Folgenden die besten Kommentare für Sie niedergeschrieben:


"Sarah Kirsch verstand es, echte Liebesgedichte zu schreiben."
"Wenn man das Gedicht einmal genau betrachtet, kann man erkennen,
das von Vergänglichkeit die Rede ist. Liebe ist vergänglich,
wie beinahe alles im Leben."

"Sie war eine wahre Künstlerin. Unglaublich,
wie leicht sie Positives und Negatives
zu einem Ganzen vereinen konnte."
"Diese Frau hat das Kind in sich niemals vergessen. Selbst als
erwachsene Frau träumte sie noch von Eisblumen."
"Es ist beinahe schon traurig, dass so ein schönes Gedicht
vom Abschied von einer geliebten Person erzählt."

"Liebe und Schnee - ein wunderbares Bild, nicht wahr?
Hitze und Kälte, Leidenschaft und Vergessenes -
ein bemerkenswerter, aber klarer Kontrast."
"Aus diesen Worten spricht die pure Sehnsucht nach Geborgenheit."

"Darling... fast ein bisschen clichéhaft, oder?"


Ja, es ist fast ein bisschen clichéhaft. Ein Gedicht, welches davon erzählt, wie schön die Liebe ist und wie schnell die Flamme der Leidenschaft erlöschen kann. Wie schnell aus einer süß geflüsterten Floskel, eine abgenutzte und oberflächliche Anrede wird. Eine Frau, die im märchenhaften Ton eines Kindes erzählt, begeistert von der Schönheit der Natur. Eine Frau, die von Liebe spricht, weil sie sie erlebt hat, weil sie diese erfahren hat und weil sie weiß, was es heißt, die Liebe zu verlieren.